Bericht vom anderen „Ende“ der Erde: Kontinent der Extreme

  • Christian Hohl

Vor genau zwei Jahren heirateten Ute und ich und traten die Reise nach Australien an. Dort begann am 1. August 2019 mein Dienst in der Evangelisch-Lutherischen Kirche Sydney (www.kirche-sydney.org.au). Lebensläufe aus halb Europa, Südafrika und anderswo kommen hier zusammen. Die Mehrheit der Mit-glieder ist im gehobenen Alter, immer wieder kommen Touristen und Work-and-Traveller sowie Familien an, die die Arbeit nach Downunder gebracht hat.

Gleich vorweg: In Coronazeiten ist alles anders. Die streng geschlossenen Grenzen halten Touristen, Stu-dent*inn*en und neue Kräfte aus dem Ausland draußen. Die Gastronomie und die Landwirte klagen über die heftigsten Einbußen. Aber nicht einmal mit einem australischen Pass ist die Ankunft hier garantiert. So ist Seelsorge nötig, wo Menschen darunter leiden, nicht zum Abschied eines Lieben in Europa reisen zu können. Dafür ist „Oz“ auch weitgehend von hohen Fallzahlen verschont geblieben. In diesem Juli 2021 erleben wir den schwersten Lockdown in Sydney bisher.

Für die Arbeit hieß das, dass wir nach acht Monaten völlig umstellen mussten. Statt Kennenlernen und Besuchen standen nun Online-Gottesdienste auf dem Programm und eine Vernetzung mit allen deutschen Gemeinden in Australien (www.ekia.org.au). Damit waren aber auch Gemeindeglieder wieder dabei, die Hunderte und Tausende Kilometer weit weg wohnen in Australien. Auch aus der weiten Welt haben wir regelmäßig Gäste. Am meisten litten die neuen Projekte wie Familiengottesdienste und Angebote z.B. in den Blauen Bergen. Aber die großartige Konfirmandengruppe machte das wieder wett. Spätestens bei der Konfirmandenfreizeit im Kangaroo Valley mit Kajakfahren wuchs die Gruppe zusammen. Sie bevorzugten Englisch, die neue Gruppe macht alles auf Deutsch.

Auslandsgemeinde, d.h. einige hundert Menschen seelsorglich begleiten. Das geht auch bei Covid, dann eben mehr per Telefon, Brief und eMail. Völlig unterschiedlich geprägte Menschen und ihre Bedürfnisse, die aber vor allem zu Hochzeiten wie Weihnachten und Karfreitag/Ostern die schönen alten Lieder singen wollen. Andere, die gerne etwas Neues hätten. Zweite, dritte Generation, die (fast) nur noch englisch versteht. Zu einem Gottesdienst bin ich dann schon mal Stunden lang durch wunderschöne Landschaften unterwegs, ob in den Blauen Bergen oder an der Central Coast. Und jede Begegnung, jedes strahlende Gesicht lohnt sich. Die seltenen Beerdigungen, Trauungen und Taufen machen da keine Ausnahmen. Mehrfach habe ich Kurztrips mit Besuchen bei Gemeindemitgliedern verbunden, die mehrere hundert Kilometer weit weg wohnen. Urlaube fielen leider immer wieder den Covid-19-Bestimmungen zum Opfer. Oft mussten wir ganz absagen, Tasmanien und Südaustralien konnten wir besuchen. Immer wieder machen die einzelnen Bundesstaaten die Grenzen hermetisch dicht, so dass wir in New South Wales (NSW) eingesperrt sind. Aber das „schönste Gefängnis der Welt“ hat viel zu bieten, zumal es doppelt so groß wie Deutschland ist. Und doch fehlen uns die Kinder und Freunde auf dem Hunsrück sehr.

Als Kirche arbeiten wir mit der hiesigen Lutheran Church in Australia (LCA) zusammen, ohne Mitglied zu sein. Diese Kirche hat vor allem in Adelaide ihren Ursprung als Flüchtling vor der Altpreußischen Union (nach 1817). Entsprechend konservativ ist ihre Ausrichtung, wie der langwierige Streit um die Ein-führung der Frauenordination zeigt. Theologisch ist uns oft die Uniting Church näher, die reformierte und methodistische Wurzeln hat und die „heißen Eisen“ wie Flüchtlingsarbeit, Urbevölkerung und Homosexualität anpackt. Andere Kirchen sind hier auch eher konservativer, als man sie von Europa her kennt.

Die Kirche Sydney ist im Prinzip selbstständig und bezahlt auch den Pfarrer selbst. Von der EKD werden zusätzliche Kosten übernommen und regelmäßige Fortbildungen organisiert, die aber seit Jahr und Tag alle online laufen müssen.. Unsere Zusammenarbeit mit zwei deutschen Kirchengemeinden in Melbourne sowie verstreuten Gruppen in Adelaide und Perth ist freiwillig und überbrückt Tausende von Kilometern.  Das gilt auch für den Austausch mit Hermannsburg im Roten Zentrum, wo vor 150 Jahren eine deutsche Mission unter den Indiginous People (Aborigines) besondere Wege ging, z.B. durch die Übersetzung von Bibelteilen und deutschen Liedern in deren Sprache. So tritt dieser Chor weltweit mit uns vertrauten Chorälen auf, die teils auf deutsch, teils auf Arrarnta erklingen, eine der am besten bezeugten Sprachen der Ureinwohner. Ein Missionar hat mir angeboten, nächstes Jahr zu einer Schulungsaktion von indigenen Pfarrern im Outback mitkommen zu dürfen.

Bei der Pfarrerkonferenz der LCA im März beklagte ich mich, dass gleich zu Beginn meiner Zeit die schlimmste Buschfeuersaison seit hundert Jahren begann, dann die Stürme mit tagelangem Stromausfall, dann Covid. „An wem wird das nur liegen,“ antwortete ein Freund zum Staunen aller Anwesenden. Kurz danach fragte ich ihn per SMS, wie ich mich beim Jahrhundert-Hochwasser mache. Er antwortete, er rechne als nächstes mit einem Meteoriteneinschlag. Doch stattdessen begann eine nie dagewesene Mäuse-plage. Nun fragte ein Patenkind aus Deutschland an, ob uns der Pharao nicht ziehen lasse und ich mit Zehn Plagen dagegenhalte. Zu unserem Entsetzen erlebt aber auch die Heimat in Deutschland extreme Trockenheiten und nie gekannte Überschwemmungen.

Australien ist die ungeheuren Extreme gewohnt. Als ich auf Kangaroo Island mit eigenen Augen sah, dass die Hälfte der Vegetation von den Feuern vernichtet worden war, und erfuhr, dass das auch für die Population der Koalas und z.B. der Bienen zutrifft, erklärte mir ein Imker, das wäre normal, Feuer gibt es hier immer wieder, und nur die Stärksten über-leben. Dieses Mal würde es halt Jahrzehnte statt Jahre dauern mit der Erholung der Natur. In New South Wales steht die Ausrottung der Koalas an, aber eine Aussetzung der Baumfällarbeiten wird von den Farmern abgelehnt. Auf die Mäuseplage antworteten sie mit Unmassen von Gift, obwohl vorher schon davor gewarnt worden war: Jetzt sterben die Vögel in Scharen.

Auf den ersten Blick ist der Rote Kontinent eine riesengroße rote Glatze mit einer grünen Tonsur rundherum. Dort hausen die europäischen Leute, die den Haarteil systematisch verkleinern, durch Zersiedelung, Infrastruktur, riesige Farmen und unzählige Gruben, Stollen und Kohlekraftwerke. Im Westen Australiens hat eine englische Firma gerade die älteste (46.000 Jahre) durchgängig genutzte Höhlenkultur zerstört, um Eisenerz abzubauen. Vom Great Barrier Reef hier an der Ostküste brauche ich wohl kaum etwas zu sagen.

Und dennoch sind auf diesem Kontinent downunder so viele Naturwunder zu bestaunen. Die reichhaltige Welt der unterschiedlichen Beuteltiere, die bunten und oft lauten Vögel, darunter Papageien und Kakadus; die vielen verschiedenen Eukalyptusbäume, die wie andere einheimischen Pflanzen das ganze Jahr über grün sind. Immer blüht es woanders in leuchtenden Farben. In unserem Garten geht es schon los, ein paar hundert Meter weiter ist der erste Naturpfad, der zwei Flüsse und Buchten verbindet. In fünfzehn Minuten ist man am nächsten Sandstrand, wo in kurzer Entfernung die Pottwale zweimal jährlich durch-ziehen, in knapp zwei Stunden erreichen wir die Blauen Berge. Sogar Schifahren ist vor ein paar Wochen möglich gewesen, nicht nur auf den Snowy Mountains, auch andernorts in NSW.

Und Sydney? Ist eine Reise wert. In zwanzig Minuten sind wir an der Kirche im Süden der Innenstadt. Umgeben von Hochhäusern, eingebettet in wunderschöne Parks und viel Kultur. Wir wohnen in einer Vorstadt im Norden. Für wenig Geld kommen wir per Bahn in die City, aber sogar weit in den Norden, Westen oder Süden. An Wochenenden haben Rentner Sondertarife. Weihnachten muss man sich bei 30 bis 45° Celsius vorstellen, so dass die schönen Kerzen nur so dahinschmelzen. Anschließend geht es zum BBQ an den Strand…

Nun haben wir Winter. Weil jetzt die Weihnachtsleckereien besser schmecken, veranstaltet die Deutsche Internationale Schule im August den Weihnachtsmarkt. Auch das Johannisfest läuft dem heißen St. Martin den Rang ab. Aber da gewöhnt man sich dran, genau wie an die Mittagssonne im Norden und die Zeitverschiebung von 8, 9 oder 10 Stunden. Aber wenn dann im November wieder die Adventsfeiern beginnen, kommt Santa eben angesurft statt mit dem Rentierschlitten. Auch Rentiere und Kunstschnee sieht man dann als Deko in den Gärten. Bis dahin unterrichte ich noch das zweite Schulhalbjahr, zunächst wieder online. Gleich vor dem Vierten Advent gibt es die Jahreszeugnisse und dann – Sommerurlaub! Fragt sich nur, wann wir wieder in die Hunsrücker Heimat und trotzdem zurück dürfen…