Entdeckungsreise zu den neuen Gemeinschaften

Wie sehr wir Gemeinschaft benötigen, wird uns besonders klar, wenn wir sie nicht mehr frei suchen und leben können. Insofern scheint es naheliegend, dass das Buch „Die Neuentdeckung der Gemeinschaft“ von Cornelia Coenen-Marx inmitten der weltweiten Corona-Pandemie erscheint und bereits auf viele Erfahrungen aus dem ersten Jahr ihrer Bekämpfung zurückgreift. Aber natürlich werden Auflösungserscheinungen tradierter Gemeinschaften nicht erst seit einem Jahr beklagt. Die Autorin und Pastorin begibt sich auf einen Streifzug, der bei den Einsamkeitsfolgen der Pandemie nur beginnt, aber bald schon die Kehrseite von Mobilität und Digitalisierung generell erreicht: die Fliehkräfte der digitalen Single-Gesellschaft. Und sie entdeckt dabei erstaunliche geschichtliche Parallelen zum Beginn der Industrialisierung.

An manchen Stellen scheint etwas Wehmut durch: wenn beispielsweise an die im 19. Jahrhundert entstehenden „sorgenden Gemeinschaften“ der Brüder- und Diakonissenmutterhäuser erinnert wird. Aber Coenen-Marx hat alles andere als ein nostalgisches Buch geschrieben. Dafür benennt sie viel zu deutlich die häufigen Defizite dieser traditionellen Gemeinschaften – Uniformität, Anpassungsdruck, Zölibat und mangelnde Offenheit für unterschiedlichste Lebensentwürfe. Aber an der Bedürftigkeit und Beziehungssehnsucht nicht nur alter Menschen hat auch die heute längst prägende Individualisierung nichts geändert. Mit Leidenschaft und Begeisterungsfähigkeit beschreibt die Oberkirchenrätin a. D. daher viele neue Modelle gemeinschaftlichen Handelns und gemeinschaftlicher Sorge, mal noch zarte Pflänzchen, mal schon seit Jahren etablierte erfolgreiche Projekte.

Cornelia Coenen-Marx
Cornelia Coenen-Marx, Oberkirchenrätin a. D., ist seit 2015 Geschäftsführerin der Agentur „Seele und Sorge“.

Spannungsverhältnis von Gemeinschaft und Vielfalt

In diese Sammlung bringt die 68-Jährige dabei die vielen Eindrücke ihres so langen wie vielfältigen Berufslebens ein. Dem noch heute bestehenden Wickrather Gemeindeladen in Mönchengladbach, von ihr als junger Pfarrerin 1986 mitbegründet, ist das Buch gewidmet. Aber auch ganz neue Nachbarschaftsnetzwerke aus der Quartiersarbeit rücken in den Blickpunkt. „Heute, in einer pluralen und individualistischen Gesellschaft, geht es um das Spannungsverhältnis von Vertiefung und Öffnung, von Gemeinschaft und Vielfalt, um ,Unity in Diversity‘.“

Vom Wir einer Institution zum Wir gemeinsamer Erfahrungen

Die Zukunft von Kirche(ngemeinden) und Diakonie sieht Coenen-Marx dabei noch viel stärker als heute schon in der Verankerung innerhalb dieser Netzwerke. „Auch die Öffnung von Kirchen und Diakonie ins Gemeinwesen ist ein Weg von der ,Abgeschlossenheit‘ zur ,Vielfalt‘, vom Wir einer ,geschlossenen Gemeinschaft‘ zum ,Miteinander der Verschiedenen‘, vom vorgegebenen Wir einer Institution zu dem Wir, das in gemeinsamer Erfahrung entsteht.“

Provisorische Orte und Häuser der Ewigkeit

Gemeinschaften brauchen Orte. Aber diese Orte, auch die heiligen Orte der Gemeinschaften, verändern sich. Als Kirchen und Gemeindeküchen coronabedingt geschlossen waren, „wurden die Kirchplätze wiederentdeckt und die Gärten. Orte unter freiem Himmel, Räume, die offen sind für Begegnung auf Abstand, offen auch für Vorübergehende.“  Im Zuge von Gemeindeschrumpfungen stehen insbesondere die Immobilien zur Disposition. Aber mit ihren gemeindeeigenen Orten hat die Kirche andererseits ein Pfund in der Hand, mit dem sie sich gesellschaftlich einbringen kann. Und zugleich hat Corona gezeigt, wie viel Inspiration auch im Provisorischen liegt: „Es gibt wieder Wohnzimmerkirchen und Wohnwagenkirchen, Taufen am Fluss und Seelsorge auf Reisen – wie bei Paulus, Lydia und dem Kämmerer aus dem Morgenland.“ Und daneben die altehrwürdigen Kirchen, die von der Zivilgesellschaft, den Künstlern und Künstlerinnen wiederentdeckt werden, „als Räume der Stadtgesellschaft, Orte der Gemeinschaft, Häuser der Ewigkeit.“

Ein Kaleidoskop der Möglichkeiten

Wie kann die gesellschaftliche Einteilung in Hilfsbedürftige und Helfende überwunden werden, wie können echte Inklusion und interkulturelle Öffnung bis in die Gestaltung der Gottesdienste hinein gelingen, wie kann sich das Ehrenamt noch stärker auf Augenhöhe zum Hauptamt begeben? Und wie kann ein neues Wir aus Kirchen und Zivilgesellschaft erwachsen? Cornelia Coenen-Marx hat dazu keinen Ratgeber geschrieben und auch kein Rezeptbuch, sondern ein Kaleidoskop der Möglichkeiten. Vielleicht ist es am Ende mit den neuen Gemeinschaften wie mit den Pilzen in Janoschs Kinderbuch-Klassiker „Oh, wie schön ist Panama“: Man muss sie nicht suchen, man muss sie finden. „Die Neuentdeckung der Gemeinschaft“ heißt so, weil auch das Buch mehr ist als eine Suchbewegung: Es ist eine Entdeckungsreise.

Info: Neuerscheinung

Cornelia Coenen-Marx: „Die Neuentdeckung der Gemeinschaft – Chancen und Herausforderungen für Kirche, Quartier und Pflege“, Vorwort von Bischöfin Prof. Dr. Beate Hofmann, Vandenhoeck & Ruprecht Verlage, 198 Seiten, 25 Euro

  • 6.5.2021
  • Ekkehard Rüger
  • Ekkehard Rüger, Peter Wirtz