„Für uns ist Nächstenliebe immer unteilbar“

Rafael Nikodemus (61) ist als theologischer Dezernent im Dezernat Ökumene des Landeskirchenamts unter anderem zuständig für Menschenrechtsfragen sowie Flucht, Migration und Integration. Im Interview spricht er über Hilfsbereitschaft angesichts des Kriegsdramas in der Ukraine, Widersprüche im Umgang mit Geflüchteten und die Unterschiede zu 2015.

 

Rafael Nikodemus ist im Landeskirchenamt unter anderem zuständig für Menschenrechtsfragen sowie Flucht, Migration und Integration.

Herr Nikodemus, einerseits gibt es derzeit eine überwältigende Hilfsbereitschaft für Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine, andererseits hat Präses Dr. Thorsten Latzel auf Facebook gewarnt, es dürfe keine Flüchtlinge 1. und 2. Klasse geben. Wie groß ist die Gefahr?
Rafael Nikodemus:
Erst einmal möchte ich wirklich betonen, was für eine außerordentlich erfreuliche Erfahrung die aktuelle Hilfsbereitschaft ist. Nicht nur bei uns und nicht nur in der Kirche, sondern europaweit, auch in Polen und Ungarn, wo man sonst oft andere Töne vernimmt. Dennoch gibt es auch sehr konkrete Berichte von rassistischen Zurückweisungen in der Ukraine selbst, zum Beispiel von schwarzafrikanischen Studierenden oder anerkannten Flüchtlingen, die die Züge nach Polen nicht besteigen dürfen. Das geht natürlich nach unserem Verständnis nicht. Und auch beim Blick auf uns selbst ist die breite Zustimmung derzeit zwar noch weitgehend ungebrochen, aber wir wissen ja aus den Erfahrungen von 2015 und nach der Kölner Silvesternacht, wie schnell Stimmungen kippen können. Und wir haben auch bei uns schon diese Untertöne, auf der einen Seite die Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine zu begrüßen, aber andererseits gegenüber Flüchtenden aus Afghanistan oder Eritrea deutlich kritischer zu sein.

An die polnisch-ukrainische Grenze schließt sich die polnisch-belarussische an. Ist das dortige Flüchtlingsdrama noch aktuell?
Nikodemus:
Ja, und das führt uns die ganze Schizophrenie der Lage vor Augen. Auf der einen Seite werden die ukrainischen Flüchtlinge willkommen geheißen, umsorgt und können, wenn sie wollen, auch problemlos weiter nach Deutschland fahren. Gleichzeitig werden mehr als tausend Geflüchtete im Grenzgebiet zwischen Polen und Belarus gefangen gehalten ohne Aussicht auf Versorgung oder überhaupt irgendetwas. Sie sind sich selbst überlassen und wir hören immer wieder, dass dort auch Menschen sterben. Diese Widersprüche lassen sich nicht zusammenbringen. Für uns ist Nächstenliebe immer unteilbar.

Sie haben den Präses gerade auf seiner Reise zu den Flüchtlingscamps in Griechenland begleitet. Sind unterschiedliche Behandlungen von Geflüchteten auch dort ein Problem?
Nikodemus:
Es war vor allen Dingen sehr bedrückend zu sehen, wie Flüchtende generell in Griechenland behandelt werden, nämlich wie Kriminelle. Es gibt völkerrechtswidrige Pushbacks seitens des Staates in die Türkei, am 1. März wurden auf der Insel Lesbos wieder sechs Menschen tot angeschwemmt. Das war derselbe Tag, an dem der griechische Migrationsminister gesagt hat, man sei offen für ukrainische Geflüchtete, sie seien die wirklichen Flüchtlinge im Sinne des Völkerrechts. Das zeigt diese Aufspaltung, Menschen unterschiedlich zu behandeln.

Jetzt scheint Europa geeint, 2015 war es das nicht. Aber ist es verwerflich, denjenigen eher zu helfen, die einem schon allein räumlich näher sind?
Nikodemus:
Verwerflich ist das überhaupt nicht, sondern zunächst einmal verständlich, dass man stärker von dem berührt ist, was im unmittelbaren Umfeld passiert. Wenn in der Nachbarschaft ein Haus brennt, ist das für mich etwas anderes, als wenn ich höre, dass es in Bonn gebrannt hat. Problematisch wird es, wenn aus diesem verständlichen menschlichen Verhalten eine Schere im Kopf wird und wir plötzlich sagen: Das sind die guten und das sind die schlechten Flüchtlinge.

Sehen Sie Möglichkeiten gegenzusteuern?
Nikodemus:
Ja, und zwar auf verschiedenen Ebenen. Die Kirchenleitung wird auf politischer Ebene darauf hinwirken, dass Solidarität unteilbar ist. Wir können nicht einerseits Menschen im Mittelmeer sterben lassen und andererseits diese große Offenheit zeigen. Das sind alles Menschen, Betroffenheit hin oder her. Auch die Gemeinden stehen aus meiner Sicht dafür, die nötige Hilfe ungeteilt zu gewähren. Wir müssen aber auch insgesamt wachsam sein. Es gibt in unserer Landeskirche bereits erste Erfahrungen, dass Menschen aus Russland angefeindet werden, obwohl sie mit Putin nichts zu tun haben.

2015 wurden in Deutschland rund 890.000 Schutzsuchende registriert. Schon jetzt rechnen Forscher für dieses Jahr mit höheren Zahlen. Was ist an der Situation vergleichbar, was nicht?
Nikodemus:
Vergleichbar ist, dass sowohl 2015 als auch jetzt plötzlich sehr viele Menschen kommen. Nicht vergleichbar ist der Stand der Vorbereitung. 2015 war Deutschland auf solche Zahlen überhaupt nicht vorbereitet. Aber damals wurden sowohl aufseiten der staatlichen Verwaltung als auch der Kirche Strukturen herausgebildet, die jetzt reaktiviert werden können. Dabei läuft vieles noch nicht rund. Aber alles, was nach 2015 entstanden ist, zum Beispiel Lotsendienste für Geflüchtete, Begleitung bei Behördengängen, Sprachkurse und Begegnungscafés, diese ganze kirchlich-diakonische Flüchtlingsarbeit müssen wir jetzt nicht neu erfinden. Und es kommen auch wieder viel mehr Ehrenamtliche, die sagen, dass sie mitanpacken wollen.

Was sind aus Ihrer Sicht aktuell die dringendsten Anforderungen an die rheinische Kirche?
Nikodemus:
Neben der professionellen Beratung und Begleitung ist genau diese ehrenamtliche Unterstützung das, was wir als Kirche einbringen können. Denn die Organisationsmöglichkeiten seitens der Länder und Kommunen werden an ihre Grenzen stoßen. Hier benötigen sie jetzt dringend Unterstützung bei der Bereitstellung von Wohnraum. Aber die Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine brauchen dann auch Menschen, die sie an der Hand nehmen und auch mal eine Zeit mit ihnen verweilen, die da sind, wenn die ersten Frauen und Kinder, die sich gerade von ihren Männern und Vätern getrennt haben, demnächst vielleicht von ihrem Tod erfahren werden. Das kann man nicht nur verwalten, da braucht es Menschen, da braucht es Kirche, da braucht es Seelsorge.

  • 15.3.2022
  • Ekkehard Rüger
  • epd-Bild/Frank Schultze/Zeitenspiegel , ekir.de